Kunzhi (tibet. kun gzhi).
Im Bön ist Kunzhi der Grund alles Existierenden, auch des Menschen. Kunzhi ist nicht das gleiche wie das Alayavijnana des Yogachara, das sich eher mit dem Kunzhi namshe (siehe unten) vergleichen läßt. Kunzhi ist die Einheit von Leere und Klarheit, die Einheit der absoluten Unbestimmtheit der höchsten Wirklichkeit und der unaufhörlichen Darbietung von Erscheinung und Gewahrsein.
Kunzhi ist der Grund des Seins.
Die Esssenz des Kunzhi ist Leere (shunyata). Es ist grenzenloser, absoluter Raum, leer: ohne Wesenheiten, ohne innewohnendes Sein, ohne Begriffe, ohne Grenzen. Es ist der leere Raum, der außerhalb von uns zu sein scheint, der leere Raum, den die Dinge "bewohnen",und der leere Raum des Geistes. Kunzhi hat weder Innen noch Außen, und man kann weder sagen, es exisitiere, denn es ist nichts, noch kann man sagen, es exisitere nicht, denn es ist die Wirklichkeit selbst. Es ist grenzenlos, weder zu zerstören noch zu erschaffen; es ist nicht geboren und stirbt nicht.
Der Versuch seiner sprachlichen Beschreibung führt zwangsläufig zu paradoxen Wendungen, da Kunzhi jenseits der Dualität und daher jenseits aller Begriffe ist. Jede sprachliche Konstruktion, die sich als Begriff, als Mittel des Begreifens, versteht, ist schon im Ansatz falsch. Sprache kann hier nur hindeuten auf etwas, was sich selbst nicht zu fassen vermag.
Der Klarheits- oder Licht-Aspekt des Kunzhi auf der Ebene des Individuums ist Rigpa, das reine Gewahrsein.
Kunzhi ist dem Himmel ähnlich, aber nicht gleich, denn der Himmel besitzt keine Bewußtheit. Kunzhi ist beides, Leere und Bewußtheit. Das heißt aber nicht, dass Kunzhi ein Subjekt wäre, welches sich irgendwelcher Dinge bewußt ist;
gemeint ist vielmehr, dass diese Bewußtheit die Leere ist. Die Leere ist die Klarheit, die Klarheit ist die Leere. Es gibt im Kunzhi weder Subjekt nocht irgendeine Dualität oder Unterschiedenheit.
Wenn abends die Sonne untergeht, sagen wir, die Dunkelheit breche herein. Doch das ist Dunkelheit nur aus der Sicht des Betrachters. Der Raum ist immer und überall klar, er ändert sich nicht, wenn die Sonne auf- oder untergeht - es gibt keinen dunklen und hellen Raum. Dunkel und hell ist es nur für uns, die Betrachter. Dunkelheit und Helle sind im Raum, beeinflussen ihn aber nicht.
Wenn die Lampe der Bewußtheit angezündet ist, wird es für uns licht im Raum des Kunzhi, des Grundes, aber das Kunzhi selbst war niemals dunkel. Die scheinbare Dunkelheit war nur ein Ausdruck unseres Nichtsehens, unser Gewahrsein hatte sich in die Finsternis des unwissendes Geistes verfangen.
aus
Übung der Nacht
Tibetische Meditationen in Schlaf und Traum
Tenzin Wangal Rinpoche
Diederichs