Die Gebote als Ausdruck der Liebe
Auf den ersten Blick mag es so erscheinen, als seien die zehn Gebote - den gleichnamigen christlichen und jüdischen Vorschriften vergleichbar - negativ definierte Verbote. (
wer war hier zuerst? Das Ei oder die Henne?) Aber sie schreiben uns nicht vor: "Du sollst nicht...", sondern sie konstatieren eher: "Es gibt kein..."
Das heißt, im Geist gibt es kein Töten, kein Stehlen und so fort. Und so heißt nicht nur, dass wir nach der Reinheit unseres Geistes streben sollten, sondern dass es in dem Geist, der identisch ist mit dem Universum, dem Buddha-Geist, seit Anbeginn niemals so etwas wie Töten, Stehlen und so fort gegeben hat. In einigen der Kommentare, die der Dogen Zenji über die Zehn Hauptgebote verfaßt hat, heißt es zwar: "Du sollst nicht", aber diese Interpretation bezieht sich ganz klar auf die spezifische Zen-Schulung.
Sofern wir zu der Erkenntnis gelangen möchten, dass es letztendlich im Geist so etwas wie Töten nicht gibt, so brauchen wir nur das Töten zu unterlassen.
Aber ungeachtet des ihnen mitunter anhaftenden Befehlstones sind moralische Anrufe dennoch Ausdruck der Liebe. Es kann durchaus eine Liebestat sein zu sagen: "Tu das nicht!" Egal ob man die Zehn Hauptgebote als Ausdruck unserer Einheit mit allen Wesenheiten betrachtet oder als Mittel der moralischen Vervollkommnung,
in jedem Fall offenbart sich in ihnen ein tiefes Mitgefühl, so dass wir sagen können, die Zehn Hauptgebote seien ganz einfach zehn verschiedene Möglichkeiten, Liebe zu zeigen.
In den zehn Hauptgeboten ist
die Erkenntnis des von Natur aus gegebenen Guten sprachlich fixiert.
Dieses Gute ist jedoch nicht das Gegenteil des Schlechten. Vielmehr ist es Selbst- oder Buddha-Wesen. Alle Wesen sind von Natur aus Buddha -
nur ihre Selbsttäuschungen, ihre selbstauferlegten Fesseln hindern sie daran, für diese Tatsache Zeugnis abzulegen. Die Gebote befreien uns aus den Fesseln des ichbezogenen Selbstbetrugs und führen uns zu
der dem Buddha eigentümlichen uneingeschränkten und vollkommenen Erkenntnis der Wahrheit und der Ausübung eines ebenso grenzenlosen Mitgefühls. SIe weisen uns den Weg der Verwirklichung unseres eigenen Buddha-Wesens.
aus
Zen als Lebenspraxis
Robert Aiken
Diederichs Gelbe Reihe