Der Geist - der universelle Geist, das tiefste Wesen des menschlichen Geistes also - ist reine, leere Unendlichkeit. In dieser Dimension gibt es nichts, was man sexuelle Ausbeutung nennen könnte. Aber wir verdunkeln diese Reinheit durch die Wolken des Begehrens und durch das Ersinnen immer neuer Möglichkeiten der sexuellen Befriedigung.
Die Sexualität ist Anteilnahme, sobald sie jedoch zu einem Gebrauchsartikel herunterkommt, ist sie pervers - sie ist dann nicht nur ein Verstoß gegen diese, sondern auch gegen die beiden ersten Gebote.
Denn in einem solchen Fall enthält sie Elemente der Grausamkeit und ist im übrigen "Diebstahl" an anderen Menschen. Einem Dieb vergleichbar ist ein Mensch, der zufällige Begegnungen sucht, häufig bestrebt, sich etwas Fremdes einzuverleiben. Eine andere Variante des Gelegenheitssex hat ihre Ursache darin, dass der Betreffende dem Selbst als dem Agenten des Dharma nicht genügend Vertrauen schenkt. Ein solches Sexualverhalten ist damit eine unaufrichtige Anteilnahme beziehungsweise Prostitution.
Menschen, die in einer überstrengen katholische Umgebung aufgewachsen oder eine Zeitlang Anhänger Yoganandas oder eines anderen Hindu-Meisters gewesen sind, treten manchmal mit solch hohem Reinheitsideal an den Zen-Buddhismus heran, dass dieser Anspruch in der Praxis des Zen echte Probleme aufwirft. Ein Mensch, für den die sexuelle Reinheit ein ernsthaftes Problem darstellt, hat meistens nur mehr sehr wenig Energie übrig für Zazen.
Die Sexualität als solche ist weder rein noch unrein. Unsere Einstellung zu ihr kann entweder Zazen hinderlich oder förderlich sein.
Wenn zwei Menschen einander zugetan sind, so kann die sexuelle Erfüllung, die sie einander bereiten, für ihr Zazen durchaus eine echte Stütze sein.
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Zen als Lebenspraxis
Robert Aiken
Diederichs Gelbe Reihe